Dienstag, 5. Januar 2010

Grenzüberschreitungen

05.01.2010

Grenzüberschreitungen



Immer wieder habe ich die Erfahrung gemacht, wie sehr veränderte Lebenssituationen neue Gedan­ken­verbindungen hervorrufen. Ganz einfach: Wenn man etwas Ungewöhnliches tut, kommt man auch auf ungewöhnliche Gedanken. In der Folge habe ich dann aber auch immer wieder gemerkt, dass dieser Zusammenhang sehr schwer zu vermitteln ist. Nicht nur das, - oft bekomme ich wirklich das Gefühl, dass man diesen Zusammenhang sogar überhaupt nicht sehen will.

Guter Journalismus soll schließlich Berichterstattung und den sogenannten Kommentar deutlich von­einander trennen. Der Kommentar jedoch, - das sind im allgemeinen die eigenen Gedan­ken. Ist es wirklich so, dass die eigenen Gedanken einen viel niedrigeren Stellenwert haben als das aktuelle Geschehen ? Wenn sich aus Situationen neue Schlüsse ziehen lassen, die vielleicht eine allgemei­nere Gültigkeit haben als nur für diese betreffende Situation, dann liegt die Sache doch eigentlich sehr anders.

Als Naturwissenschaftler bin ich natürlich mehr als ein Journalist an neuen Schlüssen interessiert. Wenn ich mich also in neue Lebenssituationen begeben habe, so ist es meist viel weniger mein Anliegen gewesen, direkt über die Erlebnisse in dieser Situation zu berichten, als vielmehr über die Gedanken und Schlüsse, die mir im Zusammenhang damit gekommen sind.

Schon als ich von der Schule auf die Universität gekommen bin, haben mich weniger das einzu­trich­ternde Wissen und auch nicht die damals gewiss fragwürdigen Zustände an den Universitäten interessiert, als vielmehr die dahinter liegenden Strukturen. In der Kernphysik war es nicht so sehr dies Fach selber, sondern die Bedrohung durch die Kernwaffen in unserem Leben. So habe ich zur Biologie gewechselt und dort noch mehr das menschliche Leben gesucht, - habe mich für das Filmemachen entschieden. Diese Kette hat sich dann fortgesetzt mit dem Sprung zum Taxifahren, der mich zum Schreiben gebracht hat, und dieses Schreiben wiederum hat mich jetzt erneut in die weite Welt hinaus getrieben.

Jetzt kommen aber die Menschen und sehen in mir einfach einen unsteten Menschen. Wenn ich aber schon als Biologe etwas zur Physik und dann als Taxifahrer etwas Wissenschaftliches sagen wollte, so ist das im allgemeinen von vornherein abgelehnt worden. Schuster, bleib bei deinen Leisten, heißt es dann, und das Fenster wird geschlossen. Doch gerade bei solch eher ungewöhnlichen Über­gängen kommen einem auch ungewöhnliche und deswegen gewiss nicht unbedingt dumme Gedan­ken. Doch wer mag diese schon hören ! Damit habe ich immer wieder meine liebe Not gehabt.

Mich haben eh und je solche Grenzüberschreitungen angezogen. Mit der Zeit hat sich daraus fast so etwas wie ein Grundsatz im eigenen Leben entwickelt. Gegensätze ziehen mich an, habe ich erklärt, doch auch damit wenig Gegenliebe gefunden. Ist es nicht so, dass die Physik am besten unter Physi­kern, die Biologie am besten unter Biologen gedeiht, und die Taxifahrer sollen erst recht unter sich bleiben. Da mischt sich dann auch schon sozialer Dünkel mit ein.

Im menschlichen Bereich ist das so weiter gegangen. Andere Länder und Mentalitäten haben mich sehr angezogen, ebenso viel jüngere Partnerinnen. Und wenn ich jetzt aus Goa etwas zu den allge­meinen Grundlagen des Lebens sagen will, dann wird das von vornherein als Unsinn abgestempelt und abgetan. Soll er doch, wenn er auf einer Reise ist, von der Reise berichten, und damit basta finito Schluss alle aus !

Als in den nur allzu wahren Märchen aus „101 Nacht“ sich von mir selbst arroganterweise als nicht ganz unwichtig eingestufte naturphilosophische Randbemerkungen befanden, haben fast alle vorge­zogen, über den sexuellen Libertinismus die Nase zu rümpfen, anstatt darauf einzugehen. Dasselbe hat sich in diesen Impressionen aus Goa fortgesetzt. Kaum einer will dort naturwissenschaftliche Abschnitte lesen. Kaum ! Glücklicherweise gibt es Ausnahmen.

Doch der Reisende verkleidet sich als Rabe und fängt zu krächzen an. Und noch schlimmer: Er macht nicht nur krächz-krächz, sondern blog-blog, was eine veränderte Ei-Ablage anzeigen soll. Die dort abgelegten Eier mag sich jedoch keiner in seine Pfanne hauen. Eigentlich möchte der Rabe natürlich seine Eier in Buchform verkaufen. Da die renommierten Verlage sich jedoch nach dem Verhalten der Leser richten und letztere in keinerlei Profil passen, ist deren Antwort vielleicht sogar verständlich, dass die Produkte nicht in ihr Verlagsprofil passen.

Hinter vorgehaltener Hand sagt man vielleicht: „So ein Mist, was der da geschrieben hat !“ Und sicher ist nicht alles perfekt, was dort steht. Denn der Rabe ist auch nur ein Rabe. Doch er hat leider oder glücklicherweise doch etwas mehr Selbstbewusstsein als erwartet, weiß, dass auch kontroverse Dinge die Menschen weiterbringen und außerdem schlicht und einfach Spaß machen können, und lässt sich nicht davon abbringen, trumpft sogar noch ganz frech auf. Mal sehen, wer anbeißt ! Ob in den Kontroversen nicht doch ein schöner Teil Wahrheit steckt, der dazu geeignet ist, die Augen zu öffnen ?

Dieses Auftrumpfen äußert sich aber nicht nur in noch ungestümerem Schreiben, sondern ebenso in der Lebensführung; denn die beiden sind ja untrennbar miteinander verbunden. In dieser wird also nur recht selten das brave Besichtigen von Sehenswürdigkeiten in geführten Gruppen vorkommen, viel häufiger aber unerwartete Treffen mit völlig unbekannten Menschen. Diese Neigung mag durch­aus ein für mich auf jeden Fall positives Überbleibsel aus der Zeit als Taxifahrer sein. Honni soit qui mal y pense !

Aber wo liegen die Grenzen ? Liegen sie bereits dort, wo man die Empfindungen von anderen Men­schen verletzt ? Hiervon möchte ich mich deutlich distanzieren. Denn die Empfindungsskala von ca. sechs Milliarden Menschen variiert natürlich in weiten und mir meist unbekannten Grenzen. Darauf in jedem Falle Rücksicht zu nehmen ist ganz einfach unmöglich.

Wie steht es aber mit einer solchen Rücksichtnahme bei Menschen in der näheren Umgebung ? Auch hier ist die Sache höchst fragwürdig, weil man als außenstehende Person meist nur sehr schwer abschätzen kann, wie die Argumente zu beurteilen sind. Nur allzu häufig werden sie Aus­fluss von ideologisch oder gar fundamentalistisch fixierten Meinungen sein, deren Respektwürdig­keit nicht hinterfragt werden kann. Doch es wird im allgemeinen ein Ding der Unmöglichkeit sein, den Menschen diese ideologische Basis bewusst zu machen. Das wird meist nur in einem persön­lichem Streit enden, den man weder will, noch dass er irgendwelchen Nutzen hätte.

Das heiße Thema Thailand. Man vermutet, Bangkok sei für mich, was Frauen betrifft, besser geeig­net, - dass es aber dort auch nur die käuflichen Frauen seien, die man direkt ansprechen und sogar als Führerin zu mehrtägigen Ausflügen "m i e t e n" kann. Arme Familien verkaufen laut Pressebe­richten ihre 10-12 jährigen Mädchen u. diese landen dann in betrügerischer Weise bei Zuhältern. Kommentar: Eine hundsgemeine verbrecherische Tat. Nach der sogenannten Arbeit bleibt nur Heim­weh und Weinen. Den Sextouristen ist es egal,---sie sehen nur das l ä c h e l n d e A s i e n .

Dass es solche Auswüchse sehr massiv gibt, dürfte unbestritten sein. Aber bitte schön ! - damit möchte ich nicht in Verbindung gebracht werden. Und so muss ich nach all diesen mal wieder so schrecklich allgemeinen Ausführungen zum Schluss nun doch überraschenderweise noch einiges aus der privaten Erzählschatulle berichten.

Da schwamm ich neulich irgendwo zwischen Asien und Afrika. Neben mir befand sich als einziger ein sportlicher junger Mann, der sich als Schwede entpuppte und erzählte, er komme gerade aus Thailand. Und sofort fügte er hinzu, Thailand sei deutlich besser als Indien. Diese Meinung hatte ich in wenigen Tagen nun dreimal gehört, - mag das Zufall sein oder nicht. So bohrte ich nach: „Ach so, - die Frauen ! Aber die sind doch alle käuflich ?“ Das sei nur in den Touristenhoch­burgen so, und er ließ durchblicken, dass er im Nordosten des Landes erfolgreich erobert habe. Einige Tage später sah ich ihn am Strand beim Trommlertreffen gegen Sonnenuntergang mit einem bildschönen thailändischen Mädchen. Ich muss schon gestehen, dass mir da das Wasser im Munde zusammenlief.

Jetzt fürchte ich natürlich bissige Bemerkungen, dass ich ein klein wenig älter sei und dass . . . . ! Spielverderber ! Gemeinheit ! Also alles nur meine eigene Schwäche ? Müssen wir uns als ältere Menschen bescheiden lernen ? Knurr, knurr ! ? ! ?

Reden wir lieber von einem anderen Thema, den Prostituierten, - und ich meine die Volljährigen in Deutschland, aber nur in wenigen Fällen Deutsche. Habe ja nie wie die meisten Anderen ein Gehei­mnis daraus gemacht, dass ich des öfteren, - so etwa zehn bis zwölf Mal - zu ihnen gegangen bin und, mit einer einzigen Ausnahme, durchweg nur gute Erfahrungen gemacht habe. Unter ihnen waren hochgebildete und absolut amüsante, unglaublich schöne und zutiefst sozial eingestellte Frauen. Mehrere hatten sich aus eigenem Antrieb entschlossen, die Versorgung ihrer vaterlosen Fami­lie im Osten zu übernehmen und die Ausbildung von Familienmitgliedern zu finanzieren. Kein Zwang, betonten sie, und ein Großteil der Mädchen machte das, was sie taten, mit viel Spaß und Vergnügen, - kein Schwindel ! Also Vorsicht mit dem Moralisieren !

Vielleicht habe ich auch mehr als Andere in solchen Situationen erfahren, weil ich immer in ihrer eige­nen Sprache mit ihnen gesprochen habe. Dadurch kamen sie gerne ins Erzählen.

Und was ich jetzt tun werde, fragen jetzt gewiss alle. Keine Ahnung ! Das ist ja gerade das Interes­sante daran, wenn man sich in solch unüberschaubare Situationen allein begibt, - und kein Freund ist dabei, der einen dann doch im entscheidenden Moment zurückhält. Zunächst einmal gibt es hand­feste logistische Probleme. Was tun, damit mir nicht jemand gerade in einem interessanten Moment das übrigens hochnützliche Notebook oder den schönen Foto oder gar Dokumente stibitzt ? Allein hat man ja auch dafür nie einen Aufpasser dabei. Also zunächst einmal der dauernde Aufruf an den eigenen inneren Schweinehund, ganz schön „auf Draht zu sein“.

Auf jeden Fall werde ich mich nach der Grenzüberschreitung von Indien nach Thailand in Bangkok nicht ins erste beste oder schlechte „Puff“ begeben, son­dern möchte durch die Kanäle der Stadt „schippern“ und werde sicher ziemlich schnell die Stadt wieder verlassen.