Dienstag, 3. April 2012

Kein Gleichgewicht bei Spezialisten

Ein erfolgreicher Staat braucht Spezialisten. Schon bei den Ameisen und den Bienen hat sich Spezialisierung als Erfolgsmodell über Millionen von Jahren erhalten. Doch die Individuen in einem solchen spezialisierten Staat zahlen einen hohen Preis, der ihnen im allgemeinen gar nicht bewusst ist. Das gilt auch für den menschlichen Staat.

Wer über längere Zeit hinweg immer dieselbe Teilaufgabe erledigt, bei dem/der verkümmern zwangs­läufig viele andere potentielle Fähigkeiten. Frei lebende Individuen, sowohl Tiere als auch Menschen, haben offensichtlich einen viel größeren Erfahrungsraum, viel mehr Möglichkeiten, sich im Leben zu verwirklichen, als jene, die brav für ihren Staat ihre Aufgabe tun. Spezialisten werden zwar für die bestmögliche Erfüllung ihrer Tätigkeit geachtet. Doch insgeheim liebäugelt manch eine(r) mit dem Allround-Leben eines nicht spezialisierten Wanderers durch alle Welten, was aller­dings erhebliche finanzielle Einbußen mit sich bringt. Zu diesem Leben habe ich mich selber immer mehr bekannt.

Einige Schlussfolgerungen kamen im Laufe der Zeit immer wieder an die Oberfläche, bei denen es mich reizt, sie so etwa wie ein Wiederkäuer zu wiederholen, weil sie mir wirklich wichtig und aber wenig im allgemeinen Denken verankert zu sein scheinen. Die meisten von ihnen habe ich versucht, auf meiner Webseite ars-una.net deutlich zu machen. Aber ich gebe mich keinen Illusionen hin, dass das viele Menschen zunächst einmal wirklich lesen und dann auch noch in eine Auseinander­setzung darüber eintreten.

Über die dort als scheinbar abstrakte Gedanken niedergelegten Überzeugungen hinaus gibt es auch Schlussfolgerungen, die einen direkten Einfluss haben auf die eigene Lebensführung und das, was ich anstrebe. An allererster Stelle steht dabei der Wunsch nach Gleichgewicht zwischen den ver­schiedenen Lebenssphären. Wie ein Wanderprediger habe ich verkündet, dass der Mensch aus einem Kopf, einem Oberkörper, einem Unterleib und Extremitäten besteht. Diesen vier Teilen kön­nen das Wahrneh­men und Denken, Gefühle und Empfinden, Sex und Macht, sowie Aktivitäten und Arbeit zugeord­net werden. Jeder dieser Teile sollte meiner Meinung nach etwa die gleiche Bedeu­tung und den gleichen Anteil sowohl in der Lebensführung als auch bei der Kommunikation unter­einander haben.

Doch wie steht es damit in der Praxis ? Im wesentlichen nur um Wahrnehmen und Denken, oft sogar nur um Auswendiglernen von vorgekautem Wahrnehmen und Denken, geht es in der schu­lischen Ausbildung. Vor allem von Gefühlen und Empfinden wird dagegen das tägliche Leben sogenannter wohlerzogener Kreise beherrscht. Die Bereiche Sex und Macht werden nur hinter vorgehaltener Hand besprochen und in Sperrbereichen ausgelebt. Wer sich dagegen irgendwelchen Aktivitäten widmet oder der Arbeitswelt verschreibt, von dem wird erwartet, dass er oder sie dieses mehr oder weniger als Vollzeitjob tut. Von Gleichgewicht im genannten Sinne ist im allgemeinen keine Rede.

Was heißt das für das praktische Leben ? Lebensführung und Kommunikation haben eng miteinan­der zu tun und beeinflussen sich gegensei­tig. Für beide sollte daher entsprechendes gelten. Nehmen wir uns kurz die vier Bereiche einzeln vor.

Wahrnehmen und Denken sollten überall und während des ganzen Lebens bis ins Alter eine wich­tige Rolle spie­len. Während des ganzen Lebens muss man überall die Möglichkeit haben, dazu zu lernen. Das gilt nicht nur für den Kopf, sondern auch sowohl gefühls­mäßig als im Bereich von Sex und Macht als auch bei Aktivitäten und in der Arbeitswelt. Jeder Mensch sollte die gleichen Mög­lichkeiten haben, sich im Leben und insbeson­dere auch in neuen Lebensbereichen umzuschauen und dazu zu lernen.

Rein gefühlsmäßige Entscheidungen und die von Empfindungen beherrschte Welt der täglichen Lebensführung besagter wohlerzoge­ner Kreise erfordern eine gehörige Portion Skepsis und dürfen nicht als selbstverständlich betrachtet werden. Gute Beobachtung und klares Denken müssen auch von gefühlsbestimmten Menschen täglich trainiert werden. Sex und Macht nehmen bei ihnen oft nur einen verschwindend kleinen Anteil im Leben ein. In welchem Maße Arbeit und Aktivitäten in die­sen Kreisen als vorrangig angesehen werden, ist oft äußerst fragwürdig. Das freie Recht, sebst ent­scheiden zu können, wann und wieviel mann oder frau was arbeiten möchten, ist ein anstrebens­wertes Ziel.

Sexuelle Verhaltensweisen und Machtverhältnisse werden auf ähnliche Weise überaus häufig tabuisiert, was sicher auch von Übel ist. Auf welch problematische Art Menschen umgehen mit sexuellen Problemen wie zum Bespiel der Treue, der Prostitution, der Homosexualität, und ebenso mit fragwürdigen Machtstrukturen, zum Beispiel der ungleichen Behandlung von Min­der­heiten, mafiö­sen Strukturen und den Rechten von jungen und alten Menschen oder gar Tieren, ist oft unglaub­lich. Dies betrifft nicht nur die Lebensführung, sondern ebenso die Kommuni­ka­tion. Sexua­lität kann ein wesentlicher Teil menschlicher Kommunikation sein. Dass gerade heute, wo medizi­nischer Fortschritt die Über­tra­gung von Krankheiten und unerwünschte Schwangerschaf­ten weit­gehend zu vermeiden vermag, diese sogar viel stärker dafür infrage kommt, stößt immer noch auf fast unglaubliche Ablehnung. Und wie in den Medien die Diskussion fragwürdiger Macht­strukturen verhindert wird, ist ein anderes trauriges Kapitel.

In der Arbeitswelt werden Men­schen von den übrigen drei Bereichen isoliert, oder sie schneiden sich bei eigenen intensiven Aktivitäten selbst von ihnen ab, was oft ein rechter Skandal zu sein scheint. Wer sich nicht fast hundertprozentig für seine Arbeit einsetzt, wird ausgegrenzt und hat stark verminderte Chancen. Wie eigene Aktivitäten ebenso übers Ziel hinaus schießen können, dafür seien Computerfreaks und Fußball-Fans als Beispiele genannt. Eigenes Denken hat meist das Nachsehen gegenüber dem, was der Vorgesetzte sagt. Genaues Beobachten dessen, was in der Chef­etage geschieht, ist nicht minder unerwünscht. Gefühle sollen zurück gehalten werden. Sexuel­les im Arbeitsbereich ist sowieso verpönt.

Generell gilt, dass dem sicher nicht unberechtigtem Wunsch nach einer in diesem Sinne gleichge­wich­ti­gen Lebensführung und ebenso auch einer solchen Kommunikation mit unverhohlenem Miss­trauen begegnet wird. In welchem Maße darunter die Lebensqualität leidet, scheint oft kaum bewusst zu sein.

Der Wunsch nach Gleichgewicht betrifft auch die Suche nach einem Verständnis unserer gesamten Welt. Ein völlig übertriebenes Spezialistentum scheint hier ebenfalls zu regieren. Auf der genannten Webseite wird eine gleichgewichtige Bedeutung von Kunst, Religion und Wissenschaf­ten genannt. Diese Frage soll hier nicht erneut erörtert werden. Mit welchen Widerständen auch hier zu rechnen ist, zeigen viele menschliche Erfahrungen und Beispiele, die hier ebenfalls nicht aufgezählt werden. Generell kann aber gesagt werden, dass viele Vertreter eines dieser Gebiete sich zutiefst sträuben, die anderen beiden Gebiete als gleichwertig anzusehen. Das aber erschwert außer­ordentlich die Suche nach einem umfassenden Gleichgewicht bei jedem Versuch, unsere Welt bes­ser zu verstehen.

Wem dieser Ausdruck “Gleichgewicht” zu physikalisch vorkommt, der kann ihn einfach ersetzen durch die Suche nach dem Weg der Mitte, der im religiösen Bereich benutzt wird, oder der Suche nach ausgewogener Schönheit, wie er in der Kunst geläufig ist. Man verzeihe dem Physiker, dass er von Gleichgewicht redet.

Doch der entscheidende Punkt ist der persönliche Verzicht auf Spezialistentum. Mir ist wohl bewusst, dass ein moderner Staat ohne Spezialisten zusammenbrechen würde. Aber ich meine, dass wir es uns leisten können, wenn ein gewisser Teil der Bevölkerung sich von dieser Art einer eher an Sklaventum erinnernden Lebensform zurückziehen kann.

Also im Klartext: Ein Viertel meiner Lebenszeit etwa möchte ich jeweils dem Denken und Wahrnehmen widmen, ein weiteres Viertel den Gefühlen und Empfindungen, durchaus auch weiterhin ein Viertel dem Liebesleben (oh erspart mir eine Diskussion über den Unterschied von Liebe und Sex !) und damit verbunden, den Machtansprüchen, vielleicht gar nicht nur den eigenen, und schlussendlich auch ein Viertel meiner Zeit verbringen mit Aktivitäten, zum Beispiel Reisen und immer auch noch Arbeit, zum Beispel, dass ich jetzt am Computer sitze und diesen Text nach einiger gedanklicher “Arbeit” in dessen Gedächtnis und vielleicht sogar ein ganz wenig in das Gedächtnis anderer Leute transferiere.

Genau dasselbe gilt auch für meinen Wunsch, immer wieder zu versuchen, diese unglaubliche Welt “verstehen” zu wollen. Wer meine Webseite gelesen hat (Überzeugungen), wird wissen, warum ich das Wort “verstehen” in Anführungszeichen gesetzt habe. Doch das Wesentliche sollte sein, dass Kunst, Religion und (Natur-)Wissenschaften drei gleichwertige Beine bieten, damit dieses Vorhaben einen festen Stand hat. So möchte ich mich allen Dreien gleichermaßen widmen. Ein Spezialist wird so verstandenes Gleichgewicht kaum finden.



© Hans. J. Unsöld, 2012